Die Annahme des eigenen Selbst

In unserer Sprache hat das Wort «selbst» oder «Selbst» einen seltsam vielschichtigen Bedeutungswert. So wird der Begriff völlig uneinheitlich mit psychologischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Bedeutungskomponenten verwendet (Peichl/S. 29). Einerseits sind Wörter, die «selbst» enthalten, negativ behaftet. Selbstsucht, Selbstgefälligkeit, selbstverliebt, selbstversponnen, selbstbezogen; das sind Ausdrücke, die abfällig gebraucht werden. Gemeint ist, dass hier Menschen nur um sich selbst kreisen mit einem gewissen Absolutismus. Demgegenüber wird eine Haltung herausgestrichen, die von Selbstüberwindung getragen ist. Wer selbstlos ist, sich selbst überwindet, der wird als Muster der Tugend betrachtet.

In der Gegenwart wird nun andererseits das Selbst aufgewertet. Sich selbst zu verwirklichen gilt als zentrale Aufgabe. Selbstwert und Selbstbewusstsein sind wichtige Ziele der Erziehung. Das Bedürfnis, sich selbst zu behaupten, sich durchzusetzen und folglich ein positives Selbstgefühl zu entwickeln, wird betont und nicht mehr als subtile Form von Egoismus abqualifiziert. Selbstwert und Selbstvertrauen sind heutzutage sozial hoch erwünschte Fähigkeiten.

Aber nach wie vor haben wir es schwer, eine Balance herzustellen. Wo endet das notwendige Selbstbewusstsein, wo beginnt die illusionistische Selbstüberschätzung? Wie ist der fundamentale Selbstwert einzuüben, ohne in eine Selbstverliebtheit zu geraten? Wie unterscheidet sich die Annahme seiner selbst vom idealisierten Bild von sich selbst? Uns wird heute zwar zugestanden, dass wir uns selbst als Wert begreifen, aber die Kunst, zu einer nüchternen Einschätzung seiner selbst zu gelangen, gilt es zu erlernen.

«Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber, jeden mit Glück erfüllen, auch sich. Das ist gut.»

So hat es Berchtold Brecht ausgedrückt. Selbstliebe und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig, setzen sich das Mass, fordern einander heraus, sind aufeinander angewiesen. Die Selbstliebe ist auch eine Vorübung für die Nächstenliebe. Und die Begegnung mit einem Nächsten/einer Nächsten kann mich zu einer Selbstbegegnung führen, weil ich mich in einer bestimmten Nuance im anderen gespiegelt finde. So kann denn auch die Nächstenliebe zu einer Ausprägung der Selbstliebe werden, im negativen wie im positiven Verständnis.

In den Beratungen erfahre ich immer wieder, wie viele Menschen in ihrem Alltag unter einem niedrigen Selbstwert leiden und nach einer inneren Sicherheit und Stärkung suchen. Auf vielen Wegen können das Selbst, das Selbstvertrauen, der Selbstwert sowie die Selbstakzeptanz gefördert werden. Es bedarf aber der Zeit, «zu sich» zu kommen, «sich selbst anzunehmen» und sich vielleicht sogar mit «sich selbst zu versöhnen».

Es gibt eine Anzahl von Methoden und spezifischen Interventionen, um das Selbst, den Selbstwert oder das Selbstvertrauen zu fördern. Bereits Jung (Jacobi/1965, S. 63) hält dafür die aktive Imagination als ein geeignetes Mittel. Wenn Menschen den Versuch wagen, durch die Körpersprache, den Tanz oder die Stimme sich selbst auszudrücken, können psychische und physische Elemente miteinander in Verbindung und Heilungsprozesse in Gang kommen. Die verschiedenen Methoden sind wesentliche Wirkfaktoren, dem Selbst einen symbolischen Ausdruck zu verschaffen.

Nur benötigt es Fantasie und Beharrlichkeit, um solche Wege zu finden und die auf diese Weise ans Licht geförderten Manifestationen des Selbst zu entdecken. Das erwachende Selbst – die Entdeckung der eigenen Kraft – bringt immer auch eine Einsicht in die Grenzen der eigenen Fähigkeiten mit sich, in die Bedingtheiten meiner aktuellen Gestalt.

Das Haus der Sprache, der Stimme und des Körpers zu bewohnen gehört zu den Auszeichnungen eines Menschen und zu seinem Selbst. Im gewöhnlichen Trott unserer Tage vergessen wir das allzu schnell, aber es lohnt sich, den eigenen Geheimnissen auf die Spur zu kommen und zu verstehen, wie das Selbst aus eigener Kraft gestärkt werden kann.


Empfehlenswerte Literatur:

Ackermann, G. (2018). Geheimnis Mensch. Die Stimme. Ein Schlüssel zum Glück. Wien, Berlin und Zürich: Novum-Verlag.
Jacobi, J. (1965). Der Weg zur Individuation. Zürich: Rascher.
Nollmeyer, O. (1998). Die eigene Stimme entfalten. Übungen mit Summen, Sprechen, Singen für mehr Ausdruck und Wohlbefinden. München: Kösel.
Potreck-Rose, F. Jacob, G. (2019). Selbstzuwendung/Selbstakzeptanz/Selbstvertrauen. Psychotherapeutische Interventionen zum Aufbau von Selbstwertgefühl.12. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
Potreck-Rose F. (2017). Selbstakzeptanz fördern. In R. Frank (Hrsg.), Therapieziel Wohlbefinden. Ressourcen aktivieren in der Psychotherapie, 2. aktualisierte Auflage. Berlin: Springer.
Reddmann, L. (2019). Dem inneren Kind begegnen. Hör-CD mit ressourcenorientierten Übungen. 12. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
Schütz, A. (2000). Psychologie des Selbstwertgefühls von Selbstakzeptanz bis Arroganz. Stuttgart: Kohlhammer.
Schulz von Thun, F. & Stegmann, W. (2004). Das innere Team in Aktion. Praktische Arbeit mit dem Modell. 6. Auflage, Rheinbek: Rowohlt.
Schütz, A. (2005). Je selbstsicherer desto besser? Licht und Schatten positiver Selbstwertung. Weinheim: Beltz PVU.
Stahl, St. (2020). So stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl. Damit das Leben einfach wird. 4. Auflage. München: Kailash.
Storch, M., Kuhl, J., (2021). Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste. 3. unveränderte Auflage. Göttingen: Hogrefe.
Seligmann, M.E.P. (2012). Flourish – Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. München: Kösel